
Sheri, die Packraft-Pionierin
Sheri Tingey ist die Erfinderin des modernen Packrafts. Ihr Design revolutionierte einen ganzen Bootstyp und machte sie zur gefeierten Unternehmerin in einer männerdominierten Branche.
"Ich bin wie ein Biber", sagt Sheri Tingey und lacht herzlich. „Wenn Biber nicht kauen, wachsen ihre Zähne durch ihr Gehirn. Wenn ich nicht entwerfe, werde ich verrückt." Die 76-jährige Designerin sitzt entspannt in ihrem Zuhause, neben ihr Sohn Thor. In unserem Videocall klingt ihre Stimme klar und kraftvoll – trotz der chronischen Erschöpfung, die sie seit Jahrzehnten begleitet.
Es ist diese unerschütterliche Kreativität, die sie durch fünf Jahrzehnte in der Outdoor-Industrie getragen hat – oft unsichtbar, dafür aber umso wirkungsvoller.

Die Idee vom Packraft
Auf Anregung von Sohn Thor begann Sheri, über ein Boot nachzudenken, das robuster und leichter war als die üblichen Schlauchboote und ein geringeres Packmaß hatte – ein Boot für Outdoor-Abenteuer, die nicht nur auf dem Wasser stattfanden. Das Ergebnis war das Packraft, welches eine Marktlücke schloss, die bis dahin niemand erkannt hatte.

Sheris Weg
Wenn Sheri Tingey von ihren Anfängen erzählt, klingt es wie ein Kapitel aus dem Wilden Westen. Anfang der 1970er zog sie nach Jackson Hole, Wyoming – mit einem klaren Ziel: Skifahren.
"Jackson Hole war ungezähmt, frei und voller unglaublich starker Frauen", erinnert sie sich. In diesem Tal war Gleichberechtigung gelebte Praxis. Viele Frauen waren Olympionikinnen, andere ehemalige Pilotinnen des Women's Air Corps aus dem Zweiten Weltkrieg und hatten sich schon früh in männerdominierten Feldern behauptet.
Auch Sheri fand ihren Weg in die Selbstständigkeit: Sie nähte – zunächst nur für sich selbst – funktionale Skibekleidung, die in Jackson Hole auf großes Interesse stieß und schon wenig später erfolgreich unter dem Namen "Design by Sheri" verkauft wurde.
Jackson Hole war ungezähmt, frei und voller unglaublich starker Frauen.
Sheri Tingey


Sheri nähte schon mit drei Jahren Puppenkleider, und mit zehn fertigte sie bereits alle ihre Kleider selbst an. Später bekam auch ihr Sohn keine Kleidung von der Stange. Dass sie ihr Geschick mit Nadel und Faden einmal mit ihrer Liebe zur Natur verbinden würde, ahnte die begeisterte Skifahrerin und Kajakerin in ihren jungen Jahren noch nicht.
Nachdem Sheri geheiratet und einen Sohn bekommen hatte, traf sie mit nur 34 Jahren ein Schicksalsschlag: Bei ihr wurde das chronische Erschöpfungssyndrom diagnostiziert – eine Krankheit, die damals noch kaum erforscht war und von vielen Ärzten als "Frauenleiden" abgetan wurde. Ihr aktives Leben als Skifahrerin und Kajakerin war vorbei. "Du gehst zu den Ärzten, sie sagen: Nimm zwei Aspirin, dir fehlt nichts. Mein Ex-Schwiegervater war Arzt und hielt mich für verrückt. Es gab keine Bestätigung, dass das real war."
Also versteckte Sheri ihre Schwächen und teilte sich ihre drei funktionsfähigen Stunden pro Tag strategisch ein. Ihr Sohn Thor, damals erst zwei Jahre alt, erlebte seine Mutter nie gesund. Ihre Outdoor-Begeisterung hat sie ihm trotzdem weitergegeben: „Ich kannte es nicht anders. Statt anstrengender Expeditionen machten wir eben Floßfahrten – das war normal für mich."


Jahrzehnte später, als sich Sheris Gesundheit stabilisiert hatte, kam Thor von einem 39-tägigen Abenteuertrip in Alaska zurück, auf dem er und seine Freunde ihr Schlauchboot bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht hatten. Für die nächste Expedition wollte er etwas Besseres haben: robuster, leichter und mit kleinerem Packmaß. Weil es so etwas nicht zu kaufen gab, bat er seine Mutter, ihm ein solches aufblasbares Boot zu entwerfen und herzustellen. Sheri erkannte sofort das Potenzial: "Als Kajakerin verstand ich Wassersport, als Designerin ultraleichte Materialien. Die Landseite kannte sich nicht mit aufblasbaren Produkten aus, die Wassersport-Seite dachte nur in 25-Kilo-Kategorien."
Als Frau Ende 50 in einer Testosteron-geladenen Industrie hatte ich weniger als null Glaubwürdigkeit.
Sheri Tingey
Sheris Design brachte beide Welten zusammen, doch das erste Feedback aus der Outdoorbranche war ernüchternd: "Als Frau Ende 50 in einer testosterongeladenen Industrie hatte ich weniger als null Glaubwürdigkeit. Niemand wollte mit mir sprechen." Diese Erfahrung prägte ihren strategischen Ansatz: „Ich versteckte mich sehr bewusst hinter dem Boot. Alles sollte um das Produkt gehen, nicht um mich." Sohn Thor wurde Geschäftsführer – sein Auftreten als weißer Mann verschafft Alpacka Raft bis heute mehr Glaubwürdigkeit. "Leider ist das Realität", sagt Thor. "Ich werde ernster genommen als sie, wenn es um das Produkt geht."
Während Frauen früher offen abgelehnt wurden, sieht Sheri heute subtilere Barrieren: "Du bemerkst diesen Hintergedanken: ‚Wie soll sie das verstehen? Sie ist eine Frau.’" Ihr Rat an junge Frauen: „Entwickle inneres Selbstvertrauen. Erkenne, wer du bist – und stehe dazu."

Sheris Designprozess folgt keinem Lehrbuch. Ihre größte Herausforderung: "Das Gehirn zur Ruhe zu bringen! Um drei Uhr morgens wache ich auf: ‚Oh, das könnte ich so ändern!’" Gescheiterte Ideen landen in ihrer "Kleines-schwarzes-Loch-Sammlung" – oft kommen sie einfach zehn Jahre zu früh. "Wirf nichts komplett weg. Du weißt nie, wann es wieder gebraucht wird." Thor Tingey schmunzelt: "Es gibt guten und schlechten Starrsinn – ihrer ist der gute. Sie verfolgt ihre Ideen, auch wenn ich denke, sie sind schrecklich."
Heute ist Alpacka Raft in der globalen Outdoor-Industrie respektiert. "Große Marken wie Patagonia kennen uns", sagt Thor stolz. Doch Sheri interessieren Auszeichnungen wenig: "Ich mache mir nichts aus solchen Dingen." Am Ende überwiegt die Bescheidenheit: "Ich war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort." Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wer genauer hinsieht, erkennt sehr schnell, dass Sheris Erfolg das Ergebnis von Beharrlichkeit und harter Arbeit ist – trotz aller Widerstände.

